Kommodifizierte Subjekte, fluide Identitäten – das digitalisierte Selbst in der Kunst der Gegenwart // Ein Kommentar zum Vortrag von Susanne Witzgall // Christoph Benkeser

„Wir befinden uns gerade in einem paradoxen Zustand der vernetzten Isolation, sind digital vernetzt wie nie zuvor – und doch allein“, sagt Susanne Witzgall, wissenschaftliche Leiterin des cx centrum an der Akademie der Bildenden Künste in München. Egal ob im Home-Office, auf der Couch oder beim Abstands-Joggen im Park, die Präsentation des Selbst reißt nicht ab. Bekannte teilen Daten und Geschichten, Geschäftspartner lächeln in kleine Kameras und Familien winken zu vertrauten Gesichtern, die verpixelt auf dem Bildschirm auftauchen. Menschen wahren Nähe, wo keine ist; starren in eine Ferne, die leer erscheint. Und doch sind wir vernetzt, erreichen mit wenigen Klicks mehr Menschen, als manche Leute kennen. Dreimal nach links wischen, viermal nach rechts, den perfekten Winkel für das digitalisierte Selbst finden, abdrücken – Like!

Witzgall forscht als Kunsthistorikerin zu fragilen Identitäten und kommodifizierten Subjekten in der zeitgenössischen Kunst. In ihrem Vortrag, den sie am 14. Mai 2020 im Rahmen des Institutskolloquiums online abgehalten hat, erläuterte sie ihre Arbeit an zwei Beispielen: den digitalen Gemälden von Louisa Gagliardi und der Online-Persona #Sergina von Elly Clarke. Beide Künstler*innen beschäftigen sich mit der Darstellung von Subjekt-Repräsentationen, beide verschieben konventionelle Muster des Selbst. Und doch wirken sie aus unterschiedlichen Polen auf eine Thematik ein, die die Selbstoptimierung nicht nur offenlegt, sondern solange überaffirmiert bis sich deren inhärente Problematik selbst zeigt. Oder zeigen sollte.

Intime Momentaufnahmen eines Paares porträtiert die Schweizerin Louisa Gagliardi mit ihrer Reihe „La Belle Heure“. Es sind anonyme Protagonst*innen, im virtuellen Raum geschaffen, die sie wie digitale Avatare ohne Eigenschaften auf großformatige Blätter druckt. Aber: auf den Gemälden sind keine Paare mehr auszumachen. Die großen, dunklen Köpfe berühren sich beiläufig, fast zufällig; scheinen in einer Narration vereint und doch in sich gekehrt. Die Figuren beobachten sich nicht, sondern wenden sich eher den Betrachter*innen zu, die sich beobachtend vor den Leinwänden platziert haben. „Das Selbst wird durch die digitalen Screens abstrahiert“, so Witzgall, die auf die grammatischen Veränderungen durch den Semiokapitalismus (Berardi 2015) hinweist. Schließlich führe der digitalisierte Kapitalismus durch die Informationsüberflutung zu einer fragmentierten Vereinzelung der Menschen. Gagliardi fängt diesen Prozess in einer Dialektik des Stillstands ein, entwendet allzu Menschliches aus den Körpern, die sich in leeren Silhouetten auflösen. „Das atomisierte Selbst“, so Witzgall, „befindet sich dadurch in einem permanenten Zustand des Werdens.“

Im Hamsterrad der niemals abgeschlossenen Selbstoptimierung befindet sich auch #Sergina, die „selbstproduzierte C-Prominente und Niemand“ der in Berlin lebenden Künstlerin Emily Clarke. #Sergina wird für sie und befreundete Künstler*innen zur Drag-Identität, die online und offline als Verkörperung der Selfie-Kultur funktioniert. Die physischen Körper, die sie tragen, treten in den Hintergrund. Das digitalisierte Selbst überschreibt sie mit einer fortwährenden Dokumentation ihrer eigenen Subjektwerdung, und dem Sharen der Selbstpräsentation über soziale Netzwerke. #Sergina exponiert sich damit absolut. Sie zeigt alles, verschleißt ihr Selbst in der Öffentlichkeit. Die Persona lebt in einer endlosen Gegenwart, die sich ständig aktualisiert und doch nie aktuell ist, weil sie in einer Art rasenden Stillstand auf der Stelle tritt. #Sergina verfolgt nichts anderes als den Drang, sich selbst zu exponieren – und entfremdet sich in dieser Performance von dem Subjekt, das sie zu repräsentieren vorgibt. Sie ist dadurch eigenartig körperlos, legt mit ihrer affirmativen Kritik aber Brüche sozialer Repräsentation offen, in denen das digitalisierte Selbst zur Überaffirmation getrieben wird.

Auf diese Überaffirmation und den Kontrast zwischen Atomisierung (Gagliardi) und Exzessiv-Werdung (Clarke) weist Witzgall in ihrem Vortrag hin. Während Gagliardis Protagonist*innen auf den Gemälden isoliert erscheinen, entwickelt sich Clarkes #Sergina in den digitalen Medien zu einer fluiden, biodigitalen Assemblage. In beiden Fällen wirkt das digitale Selbst durch die Medien, die sie hervorbringen. Die Medien funktionieren als Werkzeuge, die sowohl Beschränkung als auch Möglichkeit zur Subjektwerdung darstellen. Mit Isolation – und ohne.

Franco Berardi (2015): Heroes. Mass murder and suicide. Verso Books: London.

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