Ich sitze im Wartezimmer meines Zahnarztes, das Handy in der Hand, Kopfhörer im Ohr – schaue auf den Bildschirm. Schlecht organisiert, macht in digitalen Zeiten keinen Unterschied mehr, verschafft mir keinen Nachteil. Es fallen zwei Termine zusammen, ich muss mich nicht entscheiden, kann beide wahrnehmen, wenn auch nicht ganz freiwillig. Ich gebe mir selbst die Chance an zwei Orten zu sein – physisch hier sitzend und digital beim Vortrag von Susanne Witzgall, der wissenschaftlichen Leiterin des cx centrum interdisziplinäre studien an der Akademie der Bildenden Künste in München. Ich prüfe mich selbst, fordere mich heraus, lasse meinen Alltag von diesem digitalen Vortrag durchdringen – finde mein Selbst auf zwei Ebenen gleichzeitig wieder.
In Susanne Witzgalls Vortrag geht es um das digitalisierte Selbst, um kommodifizierte Subjekte und fluide Identitäten. Sie spricht zu Beginn von der digitalen Vernetzung der heutigen Zeit, in der wir trotzdem immer alleine sind. Ich „sitze“ in diesem Vortrag, höre und sehe, wer gerade spricht, werde gleichzeitig aber von den Anderen nur als ein schwarzes Quadrat mit meinem Namen am Bildschirm wahrgenommen.
Ich bekomme heute keine Behandlung, der Zahntechniker ist extra gekommen, um meine neue Krone farblich an meine Zähne anzupassen – ich warte schon lange auf diesen Moment, schenke ihm trotzdem keine Aufmerksamkeit, öffne meinen Mund, stehend neben dem Fenster, für besseres Tageslicht. In diesem Moment erscheint ein Bild der Künstlerin Louisa Gagliardi, als Teil von Witzgalls Präsentation auf meinem Handy: zwei weiße Masken, (scheinbar) schwebend sich gegenüber, aus ihren Mündern ragen Finger die sich versuchen zu berühren, nacheinander greifen. Durch die nahezu identischen gesichtslosen Masken wirken die Charaktere dieses Bildes wie ent-personalisierte Subjekte. Ich sehe eine absurde Analogie zu meiner Situation: den Mund geöffnet, mit fremden Fingern darin, bin ich für den Zahntechniker ein Subjekt? Für diesen einen Moment verliere ich für ihn die Gestalt einer Person und existiere nur als Gebiss. Genauso verschwindet er für mich, weil mein digitales Selbst in Form einer Zuhörerin mehr Aufmerksamkeit verlangt.
Louisa Gagliardi erschafft virtuelle Kunst. Ihre Arbeiten sind digitale Malereien. Darin spiegelt sich eine gewisse Radikalität, dem Umstand geschuldet, dass ihre Werke ausschließlich digital entstehen. In der Serie „La Belle Heure“ rückt sie ein Paar in den Vordergrund. Die gedämpften, dunklen Farben, in Erinnerung an die Nacht und die verschwimmenden Silhouetten, wirken wie ein Tanz, verschiedener Facetten des Selbst. Die Subjekte gleichzeitig im Bild miteinanderverwoben und trotzdem in der „Selbst“-/Darstellung gefangen, lassen die Malerei wie eine Kritik an Social Media erscheinen.
Die zweite Künstlerin, die uns Susanne Witzgall an diesem Tag vorstellt, ist Elly Clarke, die unter dem Namen Sergina, in die Rolle einer Dragqueen schlüpft. Elly Clark präsentiert sich mit ihrem digitalisiertem Selbst als #Sergina, auf Social Media Plattformen, wie YouTube, tritt aber auch offline in die Öffentlichkeit. Sie erschafft sich so eine zweite Identität und spielt online wie offline mit der künstlerischen Selbstdarstellung. Sie bewegt sich zwischen Selbst-Kommodifizierung und fluider Selbstkonstruktion. Ein Spiel mit den Attributen eines narzisstischen Selbst.
Beide Künstlerinnen arbeiten mit verscheiden Ebenen der Repräsentation des Selbst im Digitalen. Während Louisa Gagliardi mit digitalen malerischen Möglichkeiten spielt und so komplexe Kunstwerke erschafft, macht Elly Clarke sich selbst zum Kunstwerk, zur Kunstfigur #Sergina, und durchdringt damit die digitalen Landschaften von sozialen Medien.
Der Zahntechniker hat auch ohne meine geistige Anwesenheit an diesem Tag die passende Farbe für meine neue Krone gefunden – meine Vorfreude ist groß. Ich öffne die Türe meiner Wohnung, betrete sie und während ich die Schuhe von den Füßen streife, ist der Vortrag von Susanne Witzgall zu Ende.